Mélanie Gugelmann - Texts
Mélanie Gugelmann: Zwei Bilder
Ein Essay von Damian Christinger 2019
Einst träumte Zhuangzhi er wäre ein Schmetterling, herumfliegend, frei und glücklich in sich selber. Er wusste nicht, dass er Zhuangzhi ist. Plötzlich wachte er auf und fand sich unzweifelhaft und solide als Zhuangzhi wieder. Allerdings war er sich dann nicht mehr sicher ob er Zhuangzhi sei, der geträumt hatte ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling der träumte Zhuangzhi zu sein.
Ein Kennzeichen der zeitgenössischen Kunst ist ja die Gleichzeitigkeit verschiedenster Praxen, die gleichberechtigte Denkräume eröffnen. Während sich also viele Kunstschaffende weiterhin phänomenologisch mit einer Landschaft des 19. Jh. auseinandersetzen und diese wahlweise mit den „Möblierungen“ derselben durch Tourismus oder Kapitalismus zusammenschneiden, bzw. überblenden, arbeiten andere Künstlerinnen längst auch an Naturbegriffen, die die Landschaft als geistige Pufferzone zwischen Mensch und Natur, in Frage stellen und ablösen.
Die Malerei von Melanie Gugelmann entsteht langsam. Schicht um Schicht lagern sich die Pigmente ab und schaffen Räume, Landschaften, innere und äussere Architekturen. Der Vorgang des Akkumulierens, also des Ablagerns und Überlagerns, ist der Grundprozess der Malerei und des Zeichnens. Lagen von mineralischen und pflanzlichen Pigmenten schichten sich über dem verdichteten und getrockneten Faservlies (Papier) oder Hanffaser- und später Baumwollgeweben (Leinwand). Manuel De Landa beschreibt in seinem aussergewöhnlichen Buch „A Thousend Years of Nonlinear History“ die Prozesse der Zivilisation und die Verstädterung der Gesellschaften als wesentliche Bewegung des 20. und 21. Jahrhunderts nicht als lineare Geschichte der menschlichen Spezies, sondern als Akkumulation verschiedenster heterogener Kategorien und Ontologien.
Gugelmann findet ihre Motive, den Gegenstand ihrer Untersuchungen dort wo sie lebt, in der Natur, in ihrem Garten, auf Wanderungen, in den Bergen der Schweiz. Die Gräser, Steine, das Wasser und Blumen bieten den Ausgangspunkt für ihre zeitgenössische Malerei. Einer Malerei, die die alte Dichotomie zwischen Natur und Kultur, Mensch und Landschaft auflöst. Der Malgrund und der darauf entstehende, expressive Auftrag erzeugen einen bemerkenswerten Kontrast zur Präzision der Pinselsprache, dessen Duktus energisch und kontrolliert zugleich erscheint. Die Detailansicht der Natur zerfliesst in ihre malerischen Einzelteile, wird zu farbigen Flächen und materieller Struktur und behält dennoch, auch in der abstrakt scheinenden Nahansicht, ihr Wesen, das was man ihren inneren Klang nennen würde.
Die serielle Herangehensweise offenbart ihren künstlerischen Impetus: ein Untersuchungsgegenstand wird nicht in einem Bild abgehandelt, sondern in einer Vielzahl von verschiedenen Formaten mit einer eigenwilligen Farbpalette unter die Lupe genommen, von allen Seiten ausgeleuchtet und befragt. Da wirkt ein beinahe meditatives Wissenwollen, führt die Künstlerin dazu den Dingen auf den Grund zu gehen, sich nicht mit einem Blickwinkel und der Oberfläche der Dinge, ihrer Wirkungsweise, zufrieden zu geben, sondern die eigene Perspektive radikal zu hinterfragen, um dem Wesen unserer Welt auf die Spur zu kommen. Man könnte argumentieren, dass sie für einen intensiven Moment zu einem Schmetterling wird, zu Zhuangzhi, und so die Bild- mit ihrer Innenwelt verschmilzt.
Die Malerei von Gugelmann zeigte in einer ersten Phase städtische Architekturen und den „Grid“ der Metropolen. Heute sind es vorwiegend zeitgenössische Landschaften, die entstehen. Wobei das Wort «zeitgenössisch» wichtig und das Grundthema das gleiche geblieben ist. Es sind eigentliche „Nicht-Orte“ und „Terrain Vague“, die die Künstlerin in einem malerisch forschenden Gestus umkreist. Der Begriff „Terrain Vague“ (Brachland) verweist auf einen grundlegenden Text, in dem der spanische Architekt, Historiker und Philosoph Ignasi de Solà-Morales (1952-2001) die Abwesenheit in zeitgenössischen Metropolen untersuchte. Er meinte mit Terrain Vague verlassene, obsolete Gegenden, Räume und Gebäude, die keinen offenkundigen Zweck erfüllen. Während solche Orte meist irgendwann renoviert und wieder in die städtische Struktur eingegliedert werden, plädierte Solà-Morales für die Wertschätzung und Beibehaltung des ruinösen Zustands dieser Orte der Freiheit, die damit eine Alternative zu der auf Rentabilität ausgerichteten kapitalistischen Stadt bilden.
Die Landschaft der Schweiz ist ein grosses Terrain Vague. Die unberührte Natur gibt es kaum mehr, Terraforming ist ein langsamer Prozess der Umwandlung, Ablagerung und Akkumulierung. Die Landschaftsmalerei und die damit verbundenen Vorstellungen von Natur kulminieren zum Beispiel spätestens in den Sequenzen eines postapokalyptischen Reservats in Tarkovskys Stalker (1979). Der Film erkundete die Zone, eine postindustrielle Brache samt darin geborgenem Wunder (dem Raum der Wünsche) aus der Sicht eines „Professors“ und eines „Schriftstellers“, die den „Stalker“, eine Art Pfadfinder, anheuern. Um die zwei Bilder zu verstehen, werden hier alle Perspektiven gleichzeitig nutzbar gemacht.
Allen anderslautenden Buchtiteln und Vorträgen, Symposien und research-basierten Kunstwerken zum Trotz leben wir noch immer nicht im Anthropozän. Zwar liegt der International Commission on Stratigraphy seit August 2016 endlich die offizielle Empfehlung einer ihrer Kommissionen vor, in ihre erdgeschichtliche Periodisierung eine neue geologische Epoche einzuführen, in der der Einfluss des Menschen im Erdstratum ablesbar geworden ist. Bislang aber ist das Anthropozän noch kein formalisierter geologischer Begriff. Stattdessen führte die Kommission im Juli 2018 eine genauere Unterteilung des Holozän ein, also unserer gegenwärtigen Epoche, die das Anthropozän entweder ersetzen oder dem es nachfolgen sollte. Neben dem Grönlandium und dem Northgrippium gibt es nun auch für die Zeit der letzten 4250 Jahre einen Namen: Herzlich willkommen, wir leben im Meghalayum!
Die Landschaften, die das Meghalayum prägten, oder genauer gesagt ihre Repräsentation, endeten jedoch auch in den Schweizer Bergen spätestens 1979.
Das Publikum, das in Zürich, Interlaken oder Chur Tarkovskys „Stalker“ im Erscheinungsjahr des Films rezipiert hat, mag klein gewesen sein, vielleicht gar verschwindend klein, die Langzeitwirkung der seltsam poetischen Endzeit-Meditation, fällt jedoch auch hier zusammen mit der Rezeption von Max Frischs „Der Mensch erscheint im Holozän“, das im gleichen Jahr erschien wie der Film Tarkovskys. Und auch wenn diese Synchronizität damals kaum jemandem aufgefallen sein mag, so haben die Berge, die Wälder, Flüsse und Seen sie sehr wohl registriert.
Max Frischs Roman untersucht den versuchten Ausbruch des Protagonisten Herr Geiser in die Landschaft des Tessins, als Versuch einer Heilung. Seine mühsam zusammengestellten Wissenssysteme sind hinfällig geworden, genau so wie die unseren. Während sich unser Planet und seine Systeme im Anthropozän
befindet und die Geologie des Meghalayum behauptet, verharrt der Mensch im Holozän. Herr Geiser leidet nicht nur an fortschreitender Demenz oder Alzheimer, er entfremdet sich auch von seinen Mitbewohnern, einer Katze, die er schliesslich über dem Kaminfeuer brät ohne sie zu essen und einem Feuersalamander, dem er äusserlich jedoch immer ähnlicher zu werden scheint.
Da die Natur um ihn herum feindlich und lebensbedrohlich wird, es herrscht apokalyptisches Unwetter, baut er vollständig isoliert und zurückgezogen in seinem Haus im Bergdorf chinesische Pagoden aus Knäckebrot und kategorisiert den Donner des Unwetters, zum Beispiel in „Knalldonner“, „Paukendonner“ oder „Polterdonner“.
Natürlich erscheint es dem Pfadfinder, dem Stalker, dabei als Frechheit, dass der Mensch sich als Verursacher der Krise, die das Anthropozän eigentlich meint, geistig wieder in den Mittelpunkt der Welt hineinschreibt; wir werden das Anthopos nicht mehr los, wir sind Herr Geiser und leiden an kollektiver Demenz, die uns solipsistisch um uns selbst treibt.
Die Omnikompetenz des Begriffs Anthropozän verweist auf seine Vagheit und Opaqueheit. Gerade ihr verdankt er seine Popularität, vor allem der Unbestimmtheit seiner normativen und epistemischen Konsequenzen wegen. Denn das Anthropozän lässt durchaus gegensätzliche Anschlussmöglichkeiten zu.
Es sprengt die klassische Trennung der Temporalitäten von res naturae und res humanae, von Natur- und Menschheitsgeschichte – aber gibt damit nicht schon selbst zweifelsfrei ein neues Leitschema vor.
Das zeigt sich daran, dass aus dem Anthropozän sowohl posthumanistische wie auch neohumanistische Konsequenzen gezogen worden sind. Der Kollaps der Mensch-Natur-Differenz, jener künstlichen Dichotomie, kann so einerseits als Ermächtigung oder andererseits als weitere Dezentrierung des Menschen verstanden werden. Am Begriff des Anthropozän und des Anthropos in ihm vollzieht sich so, wie eine Reihe aktueller Veröffentlichungen zeigt, ein Deutungskampf um die diskursive Wiederkehr des Menschen als Zentrum des Denkens.
Wenn wir also Natur und Landschaft neu denken, müssen wir dann auch automatisch den Menschen neu denken oder haben wir schon genug Unheil damit angerichtet, dass wir uns solipsistisch selbst in Zentrum von allem stellen? Melanie Guggelmann stellt sich diesen Fragen behutsam und fragend, malend.
Die Zukunft, so erfahren wir im internationalen Diskurs, ist nicht menschlich, sondern posthuman, das heißt, wir werden uns selbst nicht mehr als uns selbst erkennen können, wenn wir uns weiterhin von uns selbst als Wesen entfernen. Das Anthropozän, das den Menschen ins Zentrum stellt, entfremdet ihn nicht nur von der Natur, die er zerstört, sondern auch von sich selbst, da er sich von seinen Mitwesen und Mittieren auf diesem Planeten entfernt, auch wenn er ihnen physisch immer ähnlicher wird. Das Posthumane manifestiert sich auch im Denken über die Landschaft.
Die Landschaft hingegen, mit ihren Bergen und Wäldern, Seen und Flüssen, Möblierungen wie Sesselliften und Hotelburgen, den Architekturen, sowie ihren Bewohnerinnen, uns Menschen und anderen Tieren, schaut diesen Verschiebungen des Denkens zu. Sie wurde und wird durch uns verändert, interessiert sich aber herzlich wenig für das posthumane.
Trotz eines scheinbaren Archaizismus im Angesicht einer posthumanen Zukunft behauptet der Schriftsteller in der Zone, dass die Genrekonventionen der gotischen Erzählung der „Gothic Novel“ und ihre Formel der "negativen Ästhetik" am besten geeignet sind, die Katastrophe und den Verfall, die diese Zukunft ausmachen, zu verstehen. Mit diesem Modell lassen sich auch spekulative Erzählungen, wie die zeitnahe Science Fiction eines J.G, Ballard oder eben visuelle Kunstwerke wie die beiden Malereien von Melanie Guggelmann als zeitgenössische, also noch nicht-posthumane, Formen des Nachdenkens verstehen.
So wie das posthumane Subjekt um den Verlust der Autonomie des menschlichen Innenraums von dem, was außerhalb liegt, herum strukturiert ist, so folgt die gotische Fiktion dem, was Eva Kosofsky Sedgwick als "besonderes Raummodell" identifiziert hat, das um die Spannungen fragiler, belagerter Innenräume herum strukturiert ist: also dem Haus in den Bergen von Herrn Geiser.
Dieses Modell der gotischen Erzählung als Konflikt zwischen "dem, was drinnen ist, dem, was draußen ist, und dem, was die beiden Sphären trennt", eignet sich daher gut, um die demente Position des posthumanen Subjekts darzustellen - dessen instabiles, menschliches Innere von den riesigen Außenflächen von Natur und Maschine infiltriert und überwältigt wird. Um auf diese Schnittmenge von gothischer Erzählung und posthumaner Landschaft näher einzugehen, ist es sinnvoll zwei ästhetische Kategorien zu nutzen, die für die Gotik als Genre typisch sind, nämlich das Erhabene und das Unheimliche, um die im gotischen Roman bereits angelegte Möglichkeit der Posthumanität zu definieren.
Im einfachsten Fall kann das Erhabene als die Erfahrung dessen definiert werden, was "das Selbst mit der Vorstellung einer überwältigenden Macht überwältigt". In unserer Konfrontation mit dem, was uns völlig überhöht, werden unsere mentalen Fähigkeiten überfordert, wir verstehen nicht was vor uns liegt, uns versagt zum Beispiel im Anblick der Berge die Sprache. In diesem Zustand der Verwirrung konstituiert sich das Erhabene als "ein Widerspruch, der zwischen den Anforderungen der Vernunft und der Kraft der Phantasie erlebt wird, der mit seiner Begrenzung durch etwas konfrontiert wird, das in jeder Hinsicht über sie hinausgeht", um Deleuze zu paraphrasieren. Das Ziel der erhabenen Erfahrung als ästhetische Kategorie ist es dann, die Grenzen des Verstehens zu überschreiten, denn sie zwingt uns, mit dem zu rechnen, was außerhalb von uns selbst liegt und unseren Verstand und die Sinne mit den "nicht-mehr darstellbaren Merkmalen von Subjektivität und Realität" gerade zu überflutet.
Die zweite ästhetische Kategorie der Landschaft, mit dem Schriftsteller gesprochen, der im Genre der „Gothic Novel“ denkt, ist das Unheimliche. Die Berge, die uns umgeben, sind die Knochen von toten Drachen, die Landschaft ist mindestens ebenso eine „Landscape of the Mind“, wie es uns die chinesischen Literati lehrten, wie geologische Schichtungen des Meghalayum.
Um das zeitgenössische und hoch relevante in der Kunst von Melanie Guggelmann zu verstehen hilft erstaunlicherweise ein Blick in die Geschichte der chinesischen Malerei und ihrer Begrifflichkeiten. Dort wird zwischen höfischer und Literatenmalerei unterschieden. Die höfische Kunst diente vorwiegend der Dekoration, der Repräsentation und der allegorischen Untermauerung der konfuzianischen Prinzipien, die letztlich den Machtanspruch des kaiserlichen Hofes im Mandat des Himmels legitimierten.
Die Literatenmalerei ist der Gegenentwurf dazu und verfolgt ganz andere Ziele. Bizarre Berglandschaften beherbergen kleine Klausen, grossartige Wasserfälle verschwinden in schwindelerregenden Schluchten. Die meist in monochromer Tusche ausgeführte und auf Hängerollen montierte Malerei irritiert den westlichen Betrachter auf den ersten Blick. Es fehlt die für uns so wichtige Perspektive, die Landschaften scheinen ineinandergeschachtelt, Wolken und Gewässer unterteilen den Bildraum, es gibt keinen Horizont. Die Felsen, Bäume und Gebäude sind mit einigen wenigen Tuschelinien mehr angedeutet als illustriert, weil es den Literaten mehr darum geht das Wesen eines Gegenstandes zu erfassen als seine Gestalt wiederzugeben.
Der Schlüssel zum Verständnis, wie man einem solchen Bild zu begegnen hat, damit man die Intention des Künstlers richtig versteht liegt in der Auflösung des Verhältnisses zwischen Bildraum und Betrachter. Es gibt unzählige theoretische Texte, Gedichte und Bildaufschriften, die dazu auffordern die Perspektive des Rezipienten zu verlassen und in das Bild einzutauchen, Teil davon zu werden und in den dargestellten Landschaften spazieren zu gehen. Wir werden angeleitet uns Mental auf die Grösse eines Insektes zu schrumpfen, um das Bild aus dem Bildraum heraus wahrzunehmen. Chinesische Tuschebilder zeigen keine reale Natur, sondern Landschaften des Geistes.
Die Landschaften von Melanie Gugelmann entwickeln durch diese Schichtungen einen Sog, der sowohl etwas romantisches als auch etwas Unheimliches hat. Sie wirken wie halluzinierte Filmszenen, gothische Landschaften des Geistes. Das Verhältnis von filmischem Raum zur Realität kann als ein genuin unheimliches beschrieben werden: Das Dargestellte ist weder bestens bekannt noch völlig unbekannt, weder nur Abbildung noch komplette Neuschöpfung, sondern vielmehr beides zugleich. Eben solche Doppeldeutigkeit aber ist es, welche Siegmund Freud in seinem Aufsatz über Das Unheimliche als dessen eigentliche Definition präsentiert hat.
Dieser „filmische Raum“, der in der Malerei von Gugelmann präsent ist überträgt sich bei ihr sowohl auf das Terrain Vague der Stadt als auch auf den „Nicht-Ort“ der vermeintlichen Natur, auf die Landschaft. Die Farbgebung steht dabei in einem Kontrast zum Unheimlichen, das durch die Schichtungen aus dem Hintergrund durchschimmert. Stadt- und Naturlandschaften sind bei der Künstlerin immer Orte der Potenzialitäten, die unbestimmt bleiben und dadurch ihr Kraft und Wirkung entfalten.
Die Bilder erscheinen wie surreale Stills aus einem Film, der beim Vorführen im Gerät stecken geblieben ist, die Lampe, das Licht brennt sich langsam in das Zelluloid ein. Zwischen den einzelnen Bildern entstehen automatisch Bezüge, der Betrachter entwickelt seine eigene Narration, die natürlich nur mit den Mitteln des Poetischen eine Ahnung von Koheränz ergeben. Guggelmann erzählt uns keine Geschichten, sondern vermittelt Stimmungen, Ahnungen und Einsichten, die sich so nicht in Worte fassen liessen und darum nur im Bild Form finden können. Wir tauchen ein in eine Welt der Seen und Wiesen, geheimnissvollen Räumen und seltsamen Begegnungen, romantisch und düster zugleich, meditativ und latent bedrohlich. Die Poetik des Abgründigen erzeugt in diesem Betrachter ein Flirren und Oszillieren, einen semiotischen Echo-Raum.
Die Zone, durch die wir uns tastend bewegen, um den Landschaftsbegriff neu zu denken ist ein „Nicht-Ort“ im Sinne von Marc Augé. Was der, im deutschsprachigen Raum leider nahezu unbekannte, Anthropologe mit diesem Begriff als Welt der „Übermoderne“ beschreibt, zielt darauf ab, den Nicht-Ort als neues Paradigma zu etablieren und ihn somit auch für die Kunst nutzbar zu machen. Traditionell ist ein Ort (sowohl in der Vor- wie auch noch in der Moderne) durch Identität, Relation und Geschichtlichkeit gekennzeichnet, wenn diese Eigenschaften fehlen, dann haben wir es mit einem Nicht-Ort zu tun. Für Augé steht fest, dass die „Postmoderne“, oder „Übermoderne“, wie er es nennt, Nicht-Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind und die alten Orte nicht integrieren. Das Konzept oder die Idee der „Landschaft“ ist ein solcher alter Ort. Registriert, klassifiziert und zu „Orten der Erinnerung“ erhoben, nehmen die alten Orte, also die Landschaften, in den Nicht-Orten einen speziellen, festumschriebenen Platz ein. Sie werden also gleichsam zu Reservaten, zu generischen Inseln, zu Denkfalten, in einem Meer aus artifiziellen Nichtorten. Dieser leicht pessimistische Blick auf eine Welt, die sich langsam durchökonomisiert und durchdigitalisiert und die nur noch in ihren Fehlstellen (ihren „Glitches“ um es in der Sprache des Films Matrix zu sagen) erkennbar wird, ist eine Perspektive, die wir 2019 nur allzu gut kennen.
Wie erschliessen sich einem breiteren Publikum also Nicht-Orte? Wie erkennen wir auch ohne rote Pille des Morpheus die Reservate der Postmoderne, die Landschaften und wie denken wir sie neu?
Ein Vertreter des postmodernen Denkens in Frankreich, Jean Baudriallard, hat sich mit der ästhetischen Seite dieser Phänomene befasst und macht uns einen Vorschlag. Durch die Revolution im Bereich der Informations- Digital- und Bildtechnik wurden die Grenzen, die es für die mechanische Reproduktion von Bildern gab, aufgelöst. Wissen, Daten und Kultur können nun durch den digitalen Code und die Erfindung des virtuellen Raums beliebig oft und schnell verarbeitet, verbreitet und kopiert werden. Die Inseln der künstlichen Welten innerhalb der Nicht-Orte sind endgültig auch im Digitalen angekommen. Damit verschwindet auch das letzte Referenzsystem der Raumzeit.
Dieses neue Zeitalter ermöglicht die Erschaffung digitaler Welten, so Baudriallard und eine Dematerialisierung der vorhandenen Welt sowie die Verdrängung der Realität aus der Sinneswahrnehmung. Die Ästhetik verschwindet, die Simulation verwischt den Unterschied zwischen Imaginärem und Realität. Damit sind sowohl die physischen als auch die metaphysischen Referenzsysteme verschwunden, Bilder sind schon lange nicht mehr Bilder. Der Begriff der Landschaft löst sich auf. Die Zeichen der Landschaft, also die so oft bemühten Berge, Flüsse, Seen und Wälder verweisen nicht mehr länger auf Inhalte und Ursachen, sondern nur noch auf Oberflächen und sich selbst. Dadurch verschwinden Bedeutungen und Differenzen, Kritik und Vernunft in der Kunst: Landschaft ist überall und nirgends.
Einschränkend stellte Baudrillard fest, dass es zwar noch reale Ereignisse gebe, diese aber hätten aufgrund ihrer Referenzlosigkeit ihren Bezugsrahmen verloren. In dieser referenzlosen Welt, in der es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Realität und Fiktion, entsteht die Hyperrealität. Baudrillard radikalisiert die Definition der Hyperrealität und bezeichnet sie als "...Generierung eines Realen ohne Ursprung in der Realität".Somit bedeutet für ihn das Hyperreale den totalen Verlust der wahrnehmbaren Differenz zwischen Kopie und Realität und die Auflösung alles Greifbaren und Realen.
Norbert Schneider schreibt dazu in seiner Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne: „Besonders in der Computerästhetik und in den TV-Landschaften, mit ihren tauschwertbesetzten Glamourwelten sind die Realitätsebenen kaum noch separierbar, wobei die Warenästhetik immer mehr die Primärebene der Realität aufzehrt. Für Baudriallard ist dabei kennzeichnend, dass er – nicht ohne Melancholie (denn er sieht dahinter durchaus das Todesprinzip, den im Tausch nur verdrängten und aufgeschobenen Tod) – sich diese Korrumpierung der Sinnlichkeit in gespielter zynischer Akzeptanz erträglich zu machen sucht. Die alten Lebenswelten haben vor diesen neuen Entwicklungen kapituliert; Baudriallard spricht insofern zu Recht von einer Agonie des Realen (so der Titel eines seiner Bücher).“
Nun ist Baudriallard ja nicht mehr ganz neu, viele seiner Thesen haben sich überholt und wurden widerlegt. Und doch schleichen sich immer wieder Fehler ins System, die oben benannten Glitches in der Matrix, die die Künstlerin aufspürt und gekonnt in ihren eigenen Systemen montieren. Landschaft ist eine Denkfalte, sie ist anthropozentrisch und verneint bis zu einem gewissen Masse, die Mitautorenschaft der „Anderen“, der Mineralien und Pflanzen, der Tiere und Kleinstorganismen, des Wassers und der Gräser. Und dennoch:
Wir haben uns nun gemeinsam durch die Zone bewegt, das Meghalayum durchschritten, wir erreichen nun den „Raum der Wünsche“. Was wünschen wir uns von einem zeitgenössischen Landschaftsbegriff, diesseits einer posthumanen Hyperrealität, jenseits des Erhabenen oder Unheimlichen? Was würden uns wohl die Berge und Wälder, die Wiesen, die Flüsse und Seen raten?